Nach der Grenze
Artikel vom 08.11.2025 | Aktuell Exhibitions
Silke Markefka und Nikolai Vogel
Silke Markefka and Nikolai Vogel haben im Jahr 2008 und 2009 Grenzübergänge der Bundesrepublik Deutschland zu allen neun an die Bundesrepublik anliegenden Ländern besucht, um festzuhalten, wie es sich dort anfühlt, nachdem die Grenzanlagen nach und nach verschwinden, zurückgebaut werden oder einfach verwahrlosen, zu Ruinen verfallen, keine Funktion mehr haben, sondern als unwirkliche Relikte aus einer anderen Zeit wie Findlinge in der Landschaft stehen. Das Schengener Übereinkommen von 1985 und das Schengener Durchführungsübereinkommen von 1990 (auch als Schengen I und Schengen II bekannt) hatten Grenzarchitekturen seit Mitte der 1990er-Jahre ihrer Funktion enthoben und den Grenzübergang vielerorts in normale Straßen zurückverwandelt. An den Landgrenzen zu Belgien, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden entfielen die Personenkontrollen von und nach Deutschland bereits im Lauf des Jahres 1995, zu Österreich 1998, zu Dänemark 2001, zu Polen und Tschechien Ende 2007 und Ende 2008 dann schließlich auch zur Schweiz. Grenzkontrollen wurden an andere Grenzen der EU verlagert, wo sie umso penibler durchgeführt werden. Kommen sie jetzt dauerhaft auch rund um Deutschland zurück? Es gab eine Zeit, da verschwanden sie fast. Rückschau in eine nahe Vergangenheit.
Die Malerin Silke Markefka brachte ihre Eindrücke von den Grenzbesuchen in Bilder im Mittel- und Großformat. In ihren Grenzbildern geht es ihr dabei weniger um realistische Darstellungen als um eine Erinnerungslandschaft, um das Übermalen und Freilegen von Zeitschichten. Mit den Mitteln der Malerei erfolgt dies auf intuitive Art und Weise, die dem Betrachter vielfältige Bezüge ermöglicht und eigene Erfahrung freilegt. Der Schriftsteller und Künstler Nikolai Vogel hat mit analogen Aufzeichnungsgeräten die Grenzsituation akustisch festgehalten und beschreibt die Grenzeindrücke darüber hinaus in einem assoziativen Text. Die dafür benutzten Bandmaschinen, Tonbandgeräte, Diktiergeräte und Kassettenrekorder stammen ebenfalls aus einer verschwindenden Epoche, die sie somit ins Bewusstsein bringen.
Das Gefühl durch einen Schlagbaum zu fahren … Malerei und Grenzsoundtrack aus einer vergangenen Zeit, in der die Grenzanlagen nach und nach zu verschwinden schienen. Ein assoziativer Besuch in 22 Stationen. Entstanden zu einer Zeit, als die Grenzen zu allen Nachbarstaaten Deutschlands offen waren, also nach den Schengener Abkommen ohne Passkontrollen passierbar, während sie aktuell sämtlich wieder kontrolliert und reaktiviert werden, hält das Kunstprojekt »Nach der Grenze« einstigen, optimistischen Hoffnungen auf eine freier werdende Welt heute eindrucksvoll den Spiegel vor und hinterfragt Geschichte.
»Nach der Grenze« umfasst die Kunstformen Malerei, Fotografie, Literatur, Field Recording und Performance. Für ihr umfangreiches Projekt erhielten Silke Markefka und Nikolai Vogel das Projektstipendium für Bildende Kunst der Landeshauptstadt München 2008. Aus dem Material entstand auch das vom BR produzierte 50-minütige Hörspiel »Nach der Grenze« von Nikolai Vogel. Die Ursendung lief 2011 auf Bayern 2. 2017 wurde »Nach der Grenze« von der Kunsthistorikerin Prof. Dr. Burcu Dogramaci, die auch in mehreren Publikationen darüber geschrieben hat, im Vortrag »Was ist Heimat? Europa in Bewegung – Künstlerische Kartierungen eines Kontinents« im Lenbachhaus vorgestellt. Teile des Projekts waren bereits in Galerien und Museen zu sehen, zuletzt 2024 in der Ausstellung »Vom Teilen | About Sharing | O Dzieleniu – Kunst an der (polnisch-deutschen) Grenze« im ZAK – Zentrum für Aktuelle Kunst in der Zitadelle in Berlin.
Im Muffatwerk wird »Nach der Grenze« jetzt erstmalig in einer großen Gesamtschau präsentiert.
Biografien
Die Malerin Silke Markefka und der Schriftsteller und Künstler Nikolai Vogel entwickeln neben ihren Soloprojekten seit vielen Jahren auch gemeinsame Vorhaben und Ausstellungskonzeptionen. U. a. brachten sie in ihren gemeinsamen Ausstellungen »Lüstermagnet« (Galerie Royal, 2008) und »Solaris Odyssee« (Lothringer 13, 2010) ihre Bilder mit seinen Textinstallationen zusammen und bauten damit vielfältige Bezüge auf. In ihrem Projekt »Nach der Grenze« besuchten sie 2008 und 2009 Grenzübergänge der Bundesrepublik Deutschland zu allen neun an die Bundesrepublik anliegenden Länder, um festzuhalten, wie es sich nach den in Folge der Schengener Abkommen weggefallenen Grenzkontrollen anfühlt. Silke Markefka hat das in Bildern festgehalten, Nikolai Vogel die Grenzsituation mit Bandmaschinen und analogen Diktiergeräten aufgezeichnet und in einem assoziativen Text beschrieben. Sie erhielten dafür ein Projektstipendium für Bildende Kunst der Stadt München 2008, und Nikolai Vogel machte auch ein 50-minütiges Hörspiel daraus, Ursendung 2011 auf Bayern 2. Das umfangreiche Projekt, das immer noch in Arbeit ist, wurde bislang aber nur in kleinen Teilen ausgestellt und wird nun in der Ausstellung im Muffatwerk erstmals umfassend gezeigt.
Silke Markefka, * 1974 in Mühldorf am Inn, lebt in München. Studium der Malerei an der Akademie der Bildenden Künste München bei Prof. Günther Förg ab 2002, Meisterschülerin 2006, Diplom 2008. Villa Romana-Preis 2007. Projektstipendium für Bildende Kunst der Stadt München 2008. Debutanten-Förderung BBK München, 2010. Bayerischer Kunstförderpreis Bildende Kunst, 2013. Silke Markefkas Malerei nähert sich oft in Serien Schicht für Schicht ihren Themen an. Sie holt Gedächtnis und Erinnerung als Projektionsflächen von Selbstdarstellung und Intimität in den Blick. Etwa in ihren Serien »Archiv«, »Lüster«, »Kinder«, »Touristen«, »Von Vorhängen« und ihrer neuesten Serie »Seestücke«, die sich mit dem verblassenden Glanz verheißungsvoller Augenblicke sowie der Vergeblichkeit des Versuches, die Zeit festzuhalten, beschäftigen. Mit verglimmendem Licht und nur vorgeblichen Durchsichtigkeiten schafft sie Balanceakte, die weder in realistischer Abbildung, noch abstraktem Konzept aufgehen. Womit sie etwas sichtbar macht, wiederholt. Erinnerung entsteht erst aus dem Gegensatz von Gegenständlichkeit und Abstraktion, sie wird erzeugt, nicht abgerufen. Dabei werden Assoziationen evoziert, die mit Abwesenheit und Unwiederbringlichkeit als Ausdruck einer uneinlösbaren Sehnsucht zu tun haben. www.silkemarkefka.com
Nikolai Vogel, * 1971 in München, lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Studierte dort Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU. In Kunst und Literatur arbeitet er auf eine ganz besondere Weise assoziativ und betont dabei das Fragmentarische der Wirklichkeit, das dieser aber auch eine Offenheit ermöglicht. Finalist beim Open Mike 2004 und beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin 2005. Bayerischer Kunstförderpreis 2007, Sparte Literatur. Projektstipendium Bildende Kunst der Stadt München 2008. Gewinn im Wettbewerb »Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum« des Kulturreferats München 2012. Publikationen (Auswahl): »Spam Diamond« (Roman), Haymon 2012. »Große ungeordnete Aufzählung (Detail)« in Einzelveröffentlichungen aus dem über die Jahre entstehenden Text, u. a. Parasitenpresse, Köln 2009, SuKuLTuR, Berlin 2014, und als Privatdruck bei Peter Ludewig, München 2008 sowie Kirchseeon 2015. »Taubentext, Vogeltext«, gemeinsam mit der slowenischen Lyrikerin Anja Golob, hochroth München 2018. Sein 2520 Verse umfassender Gedichtband »fragmente zu einem langgedicht« erschien 2019 im gutleut Verlag, Frankfurt am Main 2019. Vom 18.03. bis 26.04.2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch nicht publizierten Roman »Angst, Saurier« ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube. Zu Anfang des Jahres 2021 las er vor seinem Kleiderschrank in fünf Sitzungen die 2520 Verse der »Fragmente zu einem Langgedicht« ein und veröffentlichte sie ebenfalls auf seinem YouTube-Channel. »Vielzweckbuch«, edition offenes feld 2021. »Anthropoem«, Black Ink 2021. »Eine Sprache, die sagt, dass sie außer mir ist«, Black Ink 2023. »Das Notizbuch mit den Affen«, Black Ink 2024. Zudem betreibt er mit Kilian Fitzpatrick den Black Ink Verlag und ist mit ihm im Musikduo »Schlachtbach« aktiv. www.nikolaivogel.com

S. Markefka
»Grenzübergang Nennig an der Mosel / Remich (Réimech) an der Mosel, Grenze Deutschland/Luxemburg (I)«

S. Markefka und N. Vogel
Montag, 11. Mai 2009, Grenzübergang Böglum zwischen Süderlügum und Tønder, Grenze Deutschland/Dänemark

S.Markefka
»Grenzübergang Griesen, bei Garmisch, zwischen Garmisch und Ehrwald, Grenze Deutschland / Österreich (I)«
Ausstellungsdaten
Muffatwerk, Zellstraße 4, München
Eröffnung: Do., 20.11.2025, 19 Uhr
Ausstellung: 21.11. bis 30.11.2025, Eintritt frei
Öffnungszeiten: Di. bis Fr. je 19 bis 22 Uhr, Sa. 14 bis 22 Uhr, So. 11 bis 19 Uhr
mit freundlicher Unterstützung des Rotary Clubs München
Programm:
So., 23.11., 15 Uhr: Ausstellungsführung mit Performance
Mi., 26.11., 20 Uhr: Neun Nachbarn: Talk mit Überraschungsgästen
So., 30.11., 15 Uhr: Finissage mit Vorstellung der Publikation